Von „der“ Geburtenrate und ihrer Entwicklung 

Wir haben bereits intensiv gesprochen über die bisherige Geburtenentwicklung in Deutschland, dabei vor allem zum einen über die geburtenstarken Jahrgänge („Babyboomer“) sowie zum anderen der ausgeprägte Rückgang der Geburtenrate Anfang der 1970er Jahre und deren Auswirkungen auf die nachfolgenden Generationen. Ich hatte Sie gebeten, die beim letzten Mal noch nicht genauer besprochenen Folien zum Thema Geburtenrate anzuschauen und nachzuvollziehen. Daraus sollten Sie vor allem mitgenommen haben, dass es nicht „die“ eine Geburtenrate gibt, man muss genauer hinschauen.

Wir haben zum einen die zusammengefasste Geburtenziffer, die zur Beschreibung des aktuellen Geburtenverhaltens herangezogen wird. Diese zeigt uns, wie viele Kinder eine Frau im Laufe ihres Lebens bekommen würde, wenn ihr Geburtenverhalten so wäre wie das aller Frauen zwischen 15 und 49 Jahren im jeweils betrachteten Jahr.

Dagegen kann die Frage, wie viele Kinder ein Frauenjahrgang im Durchschnitt tatsächlich geboren hat, erst beantwortet werden, wenn die Frauen am Ende des gebärfähigen Alters sind, das statistisch mit 49 Jahren angesetzt wird. Hier geht es um die endgültige Kinderzahl je Frau (Kohortenfertilität). Sie haben dem Material entnehmen können, dass man aufpassen muss, auf welche der unterschiedlichen Geburtenrate sich Aussagen beziehen, wie beispielsweise die, dass „die“ Geburtenrate seit einiger Zeit wieder ansteigen würde.

Die These, dass es eine Trendwende geben würde, wird schon seit längerem in Fachkreisen diskutiert. Hier als ein Beispiel ein Fachaufsatz aus dem Statistischen Bundesamt:

➔ Olga Pötzsch (2018): Aktueller Geburtenanstieg und seine Potenziale, in: Wirtschaft und Statistik, Heft 3/2018

»Die Anzahl der Geburten nahm in Deutschland seit 2012 jedes Jahr zu. Mit rund 792.000 Neugeborenen kamen im Jahr 2016 zwar immer noch etwa 100.000 Babys weniger zur Welt als 1990, jedoch ist die Wende zu mehr Geburten bemerkenswert und Anlass, ihre Faktoren und ihr Zukunftspotenzial zu untersuchen. Der Beitrag gibt einen Überblick über die wichtigsten aktuellen Tendenzen in der Geburtenentwicklung und die sozioökonomischen Rahmenbedingungen, in denen sich diese vollzogen haben. Dabei werden kurzfristig eingetretene Effekte, wie der Anstieg der Geburten durch Mütter mit ausländischer Staatsangehörigkeit, und die langfristigen Veränderungen in der Kohortenfertilität der deutschen Frauen getrennt voneinander untersucht.«

Die Autorin kommt zu diesem zusammenfassenden Befund – dem sich auch die Bedeutung der generellen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und der möglichen Auswirkungen familienpolitischer Maßnahmen entnehmen können: 

»Während der Anstieg der Fertilität der ausländischen Frauen mit der Verstärkung sowie dem veränderten Charakter der Zuwanderung zusammenhängt und eher als temporär bezeichnet werden kann, hat die gestiegene Geburtenhäufigkeit der deutschen Frauen mehrere Ursachen. Zum einen ist sie die Folge der langfristigen Veränderungen im Geburtentiming. Dadurch bekommen immer mehr Frauen ihre ersten, zweiten und weiteren Kinder innerhalb einer relativ kurzen Altersspanne zwischen 30 und 40 Jahren. Parallel zu dieser sogenannten „Kompression“ hat sich die Kohortenfertilität stabilisiert. Die Kinderlosenquote ist in den letzten Jahren nicht weiter angestiegen und die Kinderzahl je Mutter hat sich nach einem leichten Rückgang bei 2,0 Kindern je Mutter verfestigt. Der Rückgang der endgültigen Kinderzahl je Frau, der seit den späten 1940er-Jahrgängen mit dem Aufschieben der ersten Geburt auf ein höheres fertiles Alter einherging, ist somit gestoppt und es ist mit einem zumindest stabilen Niveau für das nächste Jahrzehnt zu rechnen. Ermöglicht wurde diese Stabilisierung durch eine deutliche Intensivierung der Fertilität im Alter nach 30 Jahren, die allerdings in diesem Umfang nicht selbstverständlich war. Sie vollzog sich von allem nach dem Jahr 2010 und unter insgesamt günstigen Rahmenbedingungen. Dazu zählen vor allem die gute wirtschaftliche Lage und niedrige Arbeitslosigkeit in Kombination mit den neuen familienpolitischen Maßnahmen. Mit dem Ausbau der Kleinkinderbetreuung und der Einführung des Elterngelds wurden bessere Voraussetzungen für die Realisierung der Kinderwünsche insbesondere für berufstätige Paare geschaffen.
Zugleich kam Anfang der 2010er-Jahre eine Generation ins wichtige fertile Alter (zwischen 30 und 40 Jahren), die bereit war, von diesen guten Voraussetzungen zu profitieren. Diese Generation hat die gesellschaftliche Diskussion über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie bewusst erlebt und war von ihren Auswirkungen – unter anderem auf die Familienpolitik und auf die Arbeitswelt – unmittelbar betroffen. Die Frauen der entsprechenden Jahrgänge 1973 bis 1986 hatten bis zum Alter von Ende 20 durchschnittlich noch weniger Kinder zur Welt gebracht als die verhältnismäßig „kinderarmen“ 1960er-Jahrgänge. Im Alter ab 30 Jahren haben sie aber ihre Kinderwünsche unter günstigen Rahmenbedingungen in größerem Umfang als ältere Frauenkohorten realisiert. Dies hat eine Stabilisierung der Kohortenfertilität bei Frauen mit deutscher Staatsangehörigkeit ermöglicht. Da zudem der Anteil ausländischer Frauen mit tendenziell höherer Fertilität an den Frauenkohorten gestiegen ist, wird sich die endgültige Kinderzahl nach ihrem Tiefststand beim Jahrgang 1968 (1,49 Kinder je Frau) erholen und bis zum Jahrgang 1974 voraussichtlich auf 1,57 Kinder je Frau steigen.«

Allerdings darf ein einschränkendes „Aber“ nicht fehlen: »Diese Stabilisierungstendenzen reichen jedoch noch nicht aus für einen weiteren kontinuierlichen Anstieg der Kohortenfertilität über 1,6 Kinder je Frau hinaus. Dafür wäre es erforderlich, dass die Kinderlosenquote deutlich unter 20 % sinken beziehungsweise die durchschnittliche Kinderzahl je Mutter deutlich über 2,0 steigen würde.«

Im Januar 2020 hat das Statistische Bundesamt dann diesen Beitrag veröffentlicht: Geburtenverhalten im Wandel. Der Trend zu späterer Geburt setzt sich fort, kann man dort lesen: »Frauen bekommen ihre Kinder in einem immer höheren Alter. Im Jahr 2018 waren die Mütter der Erstgeborenen im Durchschnitt 30 Jahre alt. Im Jahr 1970 war dagegen eine Frau beim ersten Kind im früheren Bundesgebiet etwa 24 Jahre alt und in der ehemaligen DDR sogar erst 22 Jahre alt.« Und zu der bereits mehrfach angesprochenen Kohortenfertilität erfahren wir unter der Zwischenüberschrift „Endgültige Kinderzahl je Frau: Ende der Talfahrt“: »Die in den 1930er Jahren geborenen Frauen – zum Großteil die Mütter der Babyboom-Generation – haben durchschnittlich mehr als zwei Kinder geboren. Ihre Familien­gründungs­phase fiel in die Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs der 1950er und 1960er Jahre. Bereits bei den ab Mitte der 1930er Jahre geborenen Frauen zeichnete sich jedoch ein Rückgang der endgültigen Kinderzahl je Frau ab. Besonders schnell sank diese zwischen den Geburtsjahrgängen 1934 und 1944, als immer weniger Frauen sich für ein viertes oder weiteres Kind entschieden haben. Anschließend hat sich die Kinderzahl je Mutter bei zwei Kindern stabilisiert, zugleich stieg aber der Anteil der Frauen, die gar kein Kind zeitlebens geboren haben. Zwischen den Jahrgängen 1937 und 1966 hat sich die sogenannte endgültige Kinderlosenquote (Anteil der Kinderlosen an allen Frauen eines Jahrgangs) von 11 % auf 21 % nahezu verdoppelt … Die zunehmende Kinderlosigkeit der Frauen führte zu einem kontinuierlichen Rückgang der endgültigen Kinderzahl je Frau, die bei den Frauen des Jahrgangs 1968 ihren historischen Tiefststand mit 1,49 Kindern je Frau erreicht hat.« Soweit die Beschreibung der Entwicklung, die zu der Ihnen bekannten Abnahme der endgültigen Kinderzahl je Frau geführt hat. Und wo ist nun das Ende der Talfahrt?

»Die in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre geborenen Frauen haben bereits bis zum Jahr 2018 – im Alter zwischen 39 und 48 Jahren – durchschnittlich mehr Kinder geboren als Frauen des Jahrgangs 1968. Hierfür sind im Wesentlichen zwei Faktoren ausschlaggebend: Zum einen nahm die Geburten­häufigkeit der Frauen im Alter ab 30 Jahre deutlich zu. Unter insgesamt günstigen wirtschaftlichen und familien­politischen Rahmenbedingungen haben sie die bis dahin noch nicht erfühlten Kinder­wünsche realisiert. Zum anderen hat sich die Fertilität dieser Jahrgänge im jüngeren gebärfähigen Alter bis 29 Jahren stabilisiert. Eine entscheidende Rolle spielten dabei die Zuwanderinnen, die bei der Geburt ihrer Kinder tendenziell jünger waren als die deutschen Frauen. Da ihr Anteil an allen Frauen bei den 1970er-Jahrgängen gestiegen ist, hat dies die Gesamt­fertilität positiv beeinflusst.«