China … und in Zukunft Indien? Es ist kompliziert, aber das Jahr 2023 wird sicher in Erinnerung bleiben als ein Jahr der demografischen Zeitenwende

Ich habe Ihnen ja schon die Bedeutung des Themas demografische Entwicklung für und in China erläutert. Und ich hatte in der Veranstaltung bereits darauf hingewiesen, dass dieses Jahr rückblickend als eines gewertet werden könnte, in denen sich eine demografische Zeitenwende angekündigt hat: Erstmals soll China als bevölkerungsreichstes Land überholt worden sein. Von Indien. Auch wenn man solche eindeutig daherkommenden Aussagen angesichts der Datenlage mit Vorsicht genießen muss: China nicht mehr bevölkerungsreichstes Land der Erde, so ist einer der vielen Artikel dazu überschrieben: »Während China lange Zeit das bevölkerungsreichste Land war, steht nun ein Führungswechsel an: Nach Vorhersagen der UN wird Indien am 14. April China überholen. Allerdings ist dieses genaue Datum laut Demografen mit Vorsicht zu genießen: „Es ist eine grobe Annäherung, die beste Schätzung“, sagte Patrick Gerland, Leiter der Abteilung für Bevölkerungsprognosen bei der UNO.«

Quelle der Abbildung: Frankfurter Rundschau Online, 23.01.2023

Und Sie werden in diesem Artikel mit Erklärungsansätzen konfrontiert, die Sie nach dem, was wir bislang behandelt haben, besser einordnen können:

»Tatsächlich hatten Experten lange damit gerechnet, dass Indien erst später in diesem Jahrzehnt China hinter sich lassen würde. Dass es doch schon 2023 so weit ist, liegt an der in China weiter gesunkenen Fruchtbarkeitsrate, also der durchschnittlichen Zahl der Kinder pro Frau. Diese lag in der Volksrepublik zuletzt bei 1,2 und war damit eine der niedrigsten weltweit.«

Und in Indien sieht das besser aus? Auch hier muss man mit Vorsicht auf die Daten schauen, aber man kann es vielleicht so ausdrücken: In der jüngeren Vergangenheit schon:

»Aber auch in Indien hat die Fruchtbarkeitsrate in den vergangenen Jahren rasant abgenommen, zuletzt lag sie bei 2 Kindern pro Frau. In den 1950er Jahren lag sie noch bei 6, in den 1990er Jahren waren es nur noch etwas mehr als 3. Nun wird erstmals die wichtige Marke von 2,1 unterschritten, ab der eine Bevölkerung zwangsläufig schrumpft. Von einer Bevölkerungsexplosion in Indien kann also keine Rede mehr sein. Dennoch dürfte Indiens Bevölkerung das Wachstum erst mal weiter fortsetzen. Nach der mittleren Schätzung der UN könnte das Land bis Ende des Jahrzehnts die 1,5-Milliarden-Marke überschreiten.«

Doch warum wächst Indien weiter, obwohl die Fruchtbarkeitsrate unter 2,1 liegt?

Dazu Kai Stoppel: »Dies liegt an der besonderen Altersstruktur: Mehr als 40 Prozent der Bevölkerung sind unter 25 Jahre alt. Viele Frauen sind damit derzeit im gebärfähigen Alter. Wenn etwa von 300 Millionen jede im Schnitt 2 Kinder bekommt, werden 600 Millionen Kinder geboren. Gleichzeitig sind nur knapp 100 Millionen Inder älter als 65 Jahre. Es können also gar nicht so viele Menschen sterben, wie neue geboren werden.«

»Allerdings ist die weitere Entwicklung in Indien von vielen Unwägbarkeiten begleitet: Neben der Fruchtbarkeitsrate spielt auch die Lebenserwartung eine Rolle, beides Faktoren, die sich unvorhersehbar ändern.«

Und das erklärt dann, dass die in der Abbildung dargestellten Vorausberechnungen der weiteren Entwicklung in Indien so weit auseinandergehen: »Die UN-Prognosen gehen an den Rändern daher deutlich auseinander: Die Maximalschätzung für Indien liegt bei mehr als 2 Milliarden Menschen im Jahr 2100, die Minimalschätzung bei rund 1 Milliarde, also weniger als heute.«

China schrumpft bereits

»Für China liegt die Prognose-Spanne für 2100 zwischen 1,2 Milliarden und 490 Millionen Einwohnern. Das Land dürfte den Zenit seiner Bevölkerung bei gut 1,4 Milliarden bereits überschritten haben: Anfang des Jahres meldete das Statistikamt in Peking den ersten Bevölkerungsrückgang seit sechs Jahrzehnten. Und der Altersmedian, bei dem genau die eine Hälfte der Bevölkerung jünger, die andere älter ist, liegt in China bei 39 Jahren, was einem Industrieland wie den USA ähnelt. In Indien liegt der Median bei 28 Jahren, eher auf dem Niveau von Schwellenländern wie Mexiko oder Südafrika.«

Und wir hatten bereits in der letzten Veranstaltung kurz angesprochen, dass China nicht nur hinsichtlich der Altersversorgung vor großen Herausforderungen steht, das wird besonders gravierend werden angesichts der vielen zusätzlichen pflegebedürftigen älteren Menschen: »Und die Bevölkerung in China altert rapide: Mittlerweile leben in dem Land weltweit die meisten älteren Menschen. Im Jahr 2010 waren 254 Millionen Chinesen über 60 Jahre. Es wird erwartet, dass deren Zahl bis zum Jahr 2040 auf rund 400 Millionen ansteigt, was dann mehr als ein Viertel der Bevölkerung wäre.«

Fazit: »In Indien könnte eine wachsende Erwerbsbevölkerung auch das Wachstum der Wirtschaftstätigkeit ankurbeln. In China hingegen gibt es immer weniger Erwachsene im arbeitsfähigen Alter, die eine alternde Bevölkerung unterstützen können. Demzufolge könnte die wirtschaftliche Dynamik weiter auseinander gehen, was letztlich auch eine Rolle bei Macht und Einfluss in der Region spielen dürfte.«

Ist jetzt also Indien das Land auf dem Weg nach oben? Es ist kompliziert(er)

Auch Thomas Berger bezieht sich in seinem Artikel Indiens wachsendes Selbstbewusstsein auf die Meldungen, dass Indien in diesem Jahr China hinsichtlich der Bevölkerungszahl überholt hat, weist dann aber richtigerweise auf die eingeschränkte Datenlage hin, die solchen Einstufungen zumindest ein Fragezeichen verpassen: »Zu China, dessen Bevölkerung im demografischen Wandel 2022 erstmals leicht schrumpfte, gibt es recht verlässliche Daten des jüngsten Zensus vom November 2020. Die letzten Erhebungen aus Indien, auf die sich die Wissenschaft stützen kann, stammen aber vom Zensus 2011, sind also mehr als ein Jahrzehnt alt – die regulär 2021 anstehende Volkszählung musste wegen der Corona-Pandemie verschoben werden. Seither behelfen sich die Fachleute mit statistischen Fortschreibungen, die um einiges ungenauer sind als eine neue Datenerhebung.«

Wie dem nun auch wann genau sein wird – mit dem Stempel bevölkerungsreichstes Land der Welt und noch wachsende Bevölkerung »einher geht ein spürbarer Bedeutungszuwachs auf geopolitischer Ebene.« Mit China »kann sich Indien zwar generell noch nicht ganz messen. Weder verfügt die Regierung in Neu-Delhi über einen dauerhaften Sitz im Weltsicherheitsrat, noch steht die indische Wirtschaftskraft schon auf Augenhöhe mit der chinesischen.«

»Die gewachsene Rolle als neuer Global Player* ließ sich schon an den prominenten Staatsgästen ablesen, die sich … die Klinke in die Hand gaben. Bundeskanzler Olaf Scholz, der dabei den Anfang machte, wurde ebenso von einer großen Wirtschaftsdelegation begleitet wie kurz darauf Australiens Regierungschef Antony Albanese. Etwas später flog noch der japanische Premier Fumio Kishida zu einem zweitägigen Besuch in Delhi ein.«

*) Vgl. dazu aus dem Dezember 2022 beispielsweise diesen Artikel: Ein Subkontinent auf dem Vormarsch. Indien will Motor des Wachstums im globalen Süden sein

Wie dem auch sei – der Unterschied zwischen China und Indien hinsichtlich der am Bruttoinlandsprodukt gemessenen volkswirtschaftlichen Wertschöpfung sowie der Bedeutung im weltwirtschaftlichen Gefüge ist (noch? und auf absehbare Zeit) enorm.

Das Thema wird Ihnen nicht nur an anderer Stelle in Ihrem Studium, beispielsweise in der Volkswirtschaftslehre, begegnen, sondern die vor Ihnen liegenden Jahre werden immer stärker geprägt sein von dem, was in China und Indien (nicht) passiert. Vor diesem Hintergrund die folgende Leseempfehlung:

➔ Martin Franke und Jens Giesel (2023): Wird Indien das neue China?, in: FAZ Online, 17.07.2023: »Indien hat nun eine größere Bevölkerung als China und ist im Durchschnitt jünger als die Volksrepublik. Auch die Wirtschaft wächst kräftig. Zehn Grafiken zeigen Indiens Potential.«