Das mit der (steigenden) Lebenserwartung ist immer relativ

Erinnern Sie sich noch, als wir bei der Besprechung der drei Einflussfaktoren auf die demografische Entwicklung über die Entwicklung der Lebenserwartung gesprochen haben? Ich hatte dabei – siehe dazu die Ihnen auch vorliegenden Folien – darauf hingewiesen, dass das mit dem „Wir werden alle immer älter“ mit spitzen Fingern anzufassen ist. Dahinter steht das berühmte Durchschnittsproblem1 und ein durchschnittlicher Anstieg der Lebenserwartung muss keineswegs bedeuten, dass sich der Anstieg auf alle Menschen in etwa gleich verteilt. Die einen sterben früher und die anderen deutlich später – und diese Spreizung ist nicht ausschließlich eine rein individuelle Sache, sondern – wie ich Ihnen gezeigt habe – das ist auch sehr ungleich verteilt nach der Einkommenslage der Menschen. „Oben“ lebt (im Durchschnitt) länger, „unten“ stirbt früher. Teilweise liegen da zehn Jahre Lebenserwartungsunterschiede zwischen dem oberen Viertel und dem unten.

Und das hat sozialpolitisch ganz erhebliche Konsequenzen, wenn Sie an eine schematische Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters denken, mit der immer wieder zu hörenden und scheinbar so vernünftig daherkommenden Begründung, dass wenn „wir“ alle vier oder mehr Jahr älter werden, dann können „wir“ doch davon auch ein oder zwei Jahre länger arbeiten. Wie gesagt, klingt vernünftig, ist aber bei einer ungleichen Verteilung der Lebenserwartung ein schlechtes Geschäft für diejenigen, die sowieso schon oftmals sehr niedrige Renten bekommen, die bei einem Nicht-Erreichen des gesetzlichen Renteneintrittsalters von Abschlägen bei der Rente bis zum Tod getroffen werden und dann auch noch früher versterben.

Dazu ergänzend dieser Hintergrund, um das mal mit Zahlen zu untermauern: »Etwa jeder siebte Deutsche erreicht nicht das Rentenalter und stirbt bereits vor dem 65. Lebensjahr. Das geht aus aktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamtes hervor. Vor allem Männer scheiden im Schnitt häufig vor Erreichen des Ruhestandes aus dem Leben.« Das berichtet Mirko Wenig in seinem Beitrag Jeder siebte Deutsche erreicht nicht das Rentenalter. Der Beitrag bezieht sich auf Zahlen des Statistischen Bundesamtes, die mit der rentenpolitischen Debatte verbunden werden:

»Demnach sind im Jahr 2021 rund 1,24 Millionen Menschen verstorben. Genau 144.340 schieden aus dem Leben, bevor sie ihren 65. Geburtstag begehen konnten. Die Regelaltersgrenze wird derzeit schrittweise angehoben: aktuell können Ruheständler mit 65 Jahren und sechs Monaten abschlagsfrei in den Altersruhestand wechseln, sofern sie nicht von Sonderregeln wie der „Rente mit 63“ Gebrauch machen können.«

Und die Daten zeigen einen erheblichen Unterschied zwischen den Geschlechtern, diesmal zugunsten der Frauen: »Die Zahlen zeigen zudem, dass tendenziell eher Männer vorzeitig aus dem Leben scheiden. War knapp jede zehnte verstorbene Frau (9,8 Prozent) am Todestag jünger als 65 Jahre, so traf dies sogar auf 18,3 Prozent der Männer zu.«

Und sozialpolitisch relevant kann man dann weiterlesen:

»Dass viele Menschen vor Erreichen des Rentenalters sterben, hat eine Gerechtigkeitsdebatte ausgelöst. “Wer in seinem Arbeitsleben hohen Belastungen ausgesetzt war, stirbt früher als andere“, schreibt der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) bereits 2019. „Damit wäre gerade für diejenigen, die in ihrem Arbeitsleben eine hohe Belastung zu verkraften hatten, ein höheres Rentenalter nichts anderes als ein Rentenkürzungsprogramm“.«

»Der DGB verweist auf eine Studie des Instituts für Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen von 2019 …, wonach sich auch die Berufswahl auf die Lebenserwartung auswirkt. Eine besonders niedrige Lebenserwartung haben demnach zum Beispiel männliche Arbeiter im Bergbau und in der Landwirtschaft. Die höchste Lebenserwartung haben Beamte im höheren Dienst … Laut der Studie haben die heute über 65-jährigen Männer, die lange in schlecht entlohnten Berufen mit einer starken Belastung gearbeitet haben, eine deutlich geringere Lebenserwartung von im Schnitt 75 Jahren. Dagegen werden heutige Rentner, die geringeren Belastungen ausgesetzt waren und gut verdient haben, sogar über 80 Jahre alt.«

Die angesprochene Studie finden die Interessierten hier im Original:

➔ Martin Brussig und Susanne Eva Schulz (2019): Soziale Unterschiede im Mortalitätsrisiko. Das frühere Arbeitsleben beeinflusst die fernere Lebenserwartung. IAQ-Report 2019-06, Duisburg: Institut für Arbeit und Qualifikation (IAQ), 2019

Und da war doch noch was mit den Versicherungen und den über 100 Jahre langen Leben? Und warum das ein mieser Deal sein kann

Und dann erinnern Sie sich sicher auch noch, dass ich Sie darauf hingewiesen habe, dass man darauf achten muss, mit welcher dieser Sterbetafeln die Statistiker rechnen, wenn es um die Prognose der Lebenserwartung geht. In der Ihnen vorliegenden Foliensammlung dazu hatte ich Ihnen dieses Beispiel genannt:

»Wie alt wird ein im Jahr 2011 geborenes Mädchen werden? Auf diese Frage gibt es ganz unterschiedliche Antworten: Knapp 83 Jahre, erfährt man vom Statistischen Bundesamt. Gut 102 Jahre heißt es bei der Deutschen Aktuarvereinigung, den Mathematikern der deutschen Versicherungen. Im Durchschnitt wohlgemerkt. Das sind immerhin schlappe 19 Lebensjahre Unterschied.«

Wir haben dann darüber diskutiert, wie und warum man bei den Versicherungen mit einer Lebenserwartung von 102 Jahren kalkuliert – nicht nur, weil die eine Generationensterbetafel verwenden (das Statistische Bundesamt hingegen rechnet mit einer Periodensterbetafel) und auch nicht nur wegen der Berücksichtigung nicht aller Menschen, sondern nur derjenigen, die eine private Lebensversicherung abgeschlossen haben (was überwiegend Menschen im höheren Einkommensbereich sind) – sondern auch, weil das für die Versicherungen vorteilhafte Folgen für die Prämienkalkulation hat, wie ich in der Vorlesung behauptet habe.

Nun kann man viel behaupten, wenn der Tag lang ist. Deshalb der Hinweis auf das hier: „Ein mieser Deal“, so ist der Beitrag im „Vorsorgelüge-Newsletter Nr. 10/2022 vom 18.10.2022“ überschrieben, der von Holger Balodis und Dagmar Hühne herausgegeben wird.

Balodis und Hühne berichten:

»Wie viele Menschen werden wohl 124 Jahre alt? Das fragte sich der Versicherungsberater Stefan Heringer als er die Versicherungsverträge eines Ehepaares unter die Lupe nahm. Neben den üblicherweise sehr hohen Kosten fiel ihm auf: Ein Vertrag war zur Verrentung ab Alter 65 vorgesehen, hatte einen garantierten Rentenwert von 14,06 Euro pro 10.000 Euro gespartes Kapital. Das bedeutet: Es dauert über 59 Jahre bis die Kundin das angesparte Geld in Form von monatlichen Rentenzahlungen garantiert wieder raus hat.* Ohne Zinsen. Dann wäre die Kundin 124 Jahre alt. „Das kann doch nicht legal sein – da muss doch ein Rechenfehler drin sein?! Doch, das ist legal – und da ist kein Rechenfehler drin.“ So Stefan Heringer im Blog des Ökonomen Hartmut Walz, dem wir dieses Beispiel verdanken … Es ist nicht nur legal, sondern auch völlig normal, dass bei vielen privaten Alterssicherungsprodukten hohe Kosten, verbunden mit abenteuerlichen Annahmen über die Lebenserwartung der Kunden zu extrem miesen Ergebnissen führen. Wir haben dies bereits 2015 in unserem Buch „Garantiert beschissen! Der ganz legale Betrug mit den Lebensversicherungen“ detailliert beschrieben. Und offenbar hat sich wenig geändert. Die jüngsten Zahlen der Aufsichtsbehörde Bafin über das Jahr 2020 belegen das gewohnte Bild: Die kruden Annahmen zum Todesfallrisiko und zur Lebenserwartung der Kunden bringen den Lebensversicherern Überschüsse in Höhe von rund 7,6 Mrd. Euro. Es lohnt sich also, das erwartete Lebensalter der Kunden fiktiv sehr hoch anzusetzen. Das senkt die monatlichen Renten und die Gewinne der Versicherer steigen. Wie sich das in der Praxis auswirkt, zeigt das obige Beispiel plastisch. Es gibt aber noch andere in der Öffentlichkeit wenig bekannte Gewinnquellen, z.B. die Kostengewinne. Seit Jahren vermelden die Lebensversicherer stolz, dass sie jährlich Verwaltungsaufwendungen von „nur“ rund 2 Mrd. Euro haben. Den Kunden stellen sie jedoch laufende Kosten in Höhe von rund 5,5 Mrd. Euro in Rechnung. Die sind in den Versicherungsprämien einkalkuliert. Da aber nur rund 2 Mrd. Euro wirklich gebraucht werden, entstehen permanent Überschüsse in Höhe von rund 3,5 Mrd. Euro pro Jahr.**
Und die Kunden? Die schauen meist in die Röhre. Die kümmerliche Überschussbeteiligung sinkt Jahr für Jahr auf neue Tiefstände – während sich die Aktionäre der großen Versicherungskonzerne (z.B. Allianz) über Spitzendividenden freuen dürfen. Apropos Lebensalter: Als bislang älteste Erdbewohnerin gilt die 1997 im Alter von 122 Jahren verstorbene Französin Jeanne Calment. 124 Jahre alt wurde bislang noch niemand.«

* Ein Rentenwert von 14,06 Euro bedeutet, dass ein Kunde zum Renteneintritt 14,06 Euro monatliche Rente pro 10.000 Euro des nach Abzug aller Kosten zur Verfügung stehenden Kapitals bekommt. Damit müssen 711,28 Monate mit jeweils 14,06 Euro Rente vergehen, bis ein Sparkapital in Höhe von 10.000 Euro garantiert zurückgeflossen ist. (10.000 : 14,06= 711,28 Monate = 59,27 Jahre).
** Ein Teil der Überschüsse fließt in die RfB, die Rückstellung für Beitragsrückerstattung. Einen eigentumsrechtlichen Anspruch hieraus hat der einzelne Versicherte nicht. Es ist also völlig ungewiss, ob und wann ein Kunde von solchen Überschüssen profitiert.

1 Das Durchschnittsproblem – mit dem Sie sehr oft konfrontiert werden – lässt sich so illustrieren: Wenn Sie eine Hand auf einer kalten und die andere Hand auf einer heißen Herdplatte haben, dann ist Ihnen durchschnittlich lauwarm – und damit ein angenehmer Zustand. Diese formal korrekte Durchschnittsbeschreibung aber hilft der einen Hand nicht wirklich.