„Die“ Lebenserwartung in Deutschland ist im internationalen Vergleich eher – und dann auch angeblich noch vermeidbar – niedrig

Das sind Schlagzeilen, die man lieber nicht serviert bekommt: Menschen in Deutschland sterben früher als in anderen westeuropäischen Ländern, so ist ein Beitrag überschrieben. »Obwohl die Ausgaben für Gesundheit in Deutschland hoch sind, ist die Lebenserwartung im westeuropäischen Vergleich eher niedrig«, kann man da lesen – und sogleich wird nachgeschoben: »Dabei wäre der Grund dafür weitestgehend vermeidbar.« Wirklich? 

»Deutschland liegt bei der Lebenserwartung im westeuropäischen Vergleich eher auf den hinteren Plätzen. Bei einem Ranking unter 16 Ländern in Westeuropa erreicht die Bundesrepublik bei den Männern Platz 15, bei den Frauen Platz 14.« Und weiter heißt es dort, als Zitat gekennzeichnet: »Wesentliche Ursache für den Rückstand ist eine erhöhte Zahl von Todesfällen aufgrund von Herz-Kreislauf-Erkrankungen.« Hier muss man dann die Stelle mit dem vermeidbaren Grund vermuten. Aber woher kommen diese Zahlen?

Die zitierte Meldung bezieht sich hier auf das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) in Wiesbaden. Von dort kommt diese am 10. Mai 2023 veröffentlichte Pressemitteilung Lebenserwartung: Deutschland in Westeuropa unter den Schlusslichtern. Dort wird auf eine gemeinsame Studie des BiB und des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock verwiesen:

➔ Domantas Jasilionis et al. (2023): The underwhelming German life expectancy, in: European Journal of Epidemiology, published online: 25. April 2023
»This article contributes to the discussion on the determinants of diverging life expectancy in high-income countries, with a focus on Germany. To date, much of this discourse has centered around the social determinants of health, issues of healthcare equity, poverty and income inequality, and new epidemics of opioids and violence. Yet despite doing well on all of these metrics and having numerous advantages such as comparatively strong economic performance, generous social security, and an equitable and well-resourced health care system, Germany has been a long-time life expectancy laggard among the high-income countries. Using aggregated population-level mortality data for Germany and selected six high-income countries (Switzerland, France, Japan, Spain, the United Kingdom, and the United States) from the Human Mortality Database and WHO Mortality Database, we find that the German longevity shortfall is mainly explained by a longstanding disadvantage in survival among older adults and adults nearing statutory retirement age, which mainly stems from sustained excess cardiovascular disease mortality, even when compared to other laggard countries such as the US and the UK. Patchy contextual data suggests that the unfavorable pattern of cardiovascular mortality may be driven by underperforming primary care and disease prevention. More systematic and representative data on risk factors are needed to strengthen the evidence base on the determinants of the controversial and long-standing health gap between more successful countries and Germany. The German example calls for broader narratives of population health that embed the variety of epidemiological challenges populations face around the globe.«

Lesen wir weiter, was das BIB zu dieser Studie ausführt: »Unter 16 westeuropäischen Ländern belegt die Bundesrepublik bei den Männern Rang 15, bei den Frauen Rang 14. Spitzenreiter bei den Frauen sind Spanien und Frankreich, bei den Männern die Schweiz und Schweden. Wesentliche Ursache für den Rückstand ist eine erhöhte Zahl von Todesfällen aufgrund von Herz-Kreislauf-Erkrankungen.«

»Für die Studie wurden die Sterbefälle nach Todesursachen in Deutschland mit sechs ausgewählten Ländern verglichen. Im Vergleich zu Vorreiterländern bei der Verlängerung der Lebenserwartung wie Japan, Spanien, der Schweiz und Frankreich schneidet Deutschland gerade bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen schlecht ab. Beim Vergleich nach Alter treten bei Männern bereits ab einem Alter von 50 Jahren Lebenserwartungsrückstände gegenüber den Vorreiterländern auf. So verliert Deutschland gegenüber der Schweiz allein fast ein Jahr an Lebenserwartung aufgrund erhöhter Todeszahlen im Alter zwischen 50 und 65 Jahren. Bei Frauen erklärt sich der Rückstand dagegen überwiegend aus erhöhter Sterblichkeit in Altern über 65 Jahren.«

Und dann wird dort eine steile, zumindest diskussionsbedürftige These zitiert:

„Dass Deutschland bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen deutlich zurückliegt, ist Anlass zur Sorge, da diese heutzutage als weitgehend vermeidbar gelten“, erklärt Mortalitätsforscher Pavel Grigoriev vom BiB die Ergebnisse.

»Die Studienergebnisse mögen angesichts von Deutschlands kostenintensivem Gesundheitssystem mit hohen technischen Standards überraschend wirken.« Sie werden das besser einordnen können, wir hatten in der Veranstaltung über das Gewicht der unterschiedlichen Einflussfaktoren auf den Gesundheitszustand generell bereits gesprochen (vgl. die Ihnen vorliegende Foliensammlung) und Sie erinnern sich bestimmt an die etwa 10 Prozent, die dem gesamten klinischen Bereich zugeschrieben werden. 

Und dann kommt wieder so ein diskussionsbedürftiges Zitat:

„Große wirtschaftliche Stärke und ein für den Großteil der Bevölkerung gut zugängliches und leistungsfähiges Gesundheitssystem stehen in Kontrast zu einer westeuropäischen Schlusslichtposition bei der Lebenserwartung“, urteilt Pavel Grigoriev.

Und um das dann abzurunden: In der Mitteilung des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung findet man diese Abbildung:

Und hier eine kleine Übungsaufgabe:

Schauen Sie sich die Abbildung einmal genau an.
➔ Was fällt Ihnen auf?