Bevölkerungsvorhersagen und ihre Ergebniskorrektur im Laufe der Zeit. Deutlich höhere Bevölkerungszahlen als noch vor 10 Jahren angenommen. Wie kann das sein?

Bitte schauen Sie sich die folgende Abbildung an:

Bevölkerungsstand bei den einzelnen Vorausberechnungen: 15. Vorausberechnung = Ende 2021; 14. Vorausberechnung = 2018; 13. Vorausberechnung = Ende 2013 (und Aktualisierung Ende 2015); 12. Vorausberechnung = 2008.

Mit Bezug auf diese Abbildung kann man die folgende Aufgabenstellung formulieren: »Offensichtlich musste die Zahl der in Deutschland lebenden Bevölkerung im Laufe der Vorhersagen nach oben korrigiert werden. Bitte überlegen Sie, welche der drei Ihnen bekannten Einflussfaktoren der demografischen Entwicklung für diese Korrekturen wahrscheinlich am bedeutsamsten war/ist.«

Schauen wir uns zur Auflösung der Fragestellung die Originalveröffentlichung an:

➔ Institut für Arbeit und Qualifikation (2023): Die Vorausberechnungen im Vergleich – deutlich höhere Bevölkerungszahlen als noch vor 10 Jahren angenommen, April 2023

Dort finden Sie dann die folgenden Erläuterungen:

»Im Rahmen der koordinierten Bevölkerungsvorausberechnungen formuliert das Statistische Bundesamt Annahmen, anhand derer mögliche Entwicklungen in der zukünftigen Bevölkerungsstruktur ermittelt werden. In verschiedenen Kombinationen von Merkmalsausprägungen werden Szenarien zu Bevölkerungsstand, Erwerbspersonenpotenzial und Altersaufbau ermittelt. In der moderaten Merkmalskombination der aktuellen 15. Vorausberechnung wird die Gesamtzahl aller in Deutschland Lebenden im Jahr 2060 auf 79,5 Mio. Personen beziffert. Im Vergleich dazu wurde in der 12. Bevölkerungsvorausberechnung aus dem Jahr 2009, unter den gleichen Annahmen, eine Gesamtzahl von 70,1 Mio. Personen ermittelt.«

Interessant und relevant vor dem Hintergrund unseres Schwerpunktthemas „Demografische Entwicklung und Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt“ sind diese ergänzenden Hinweise:

»Ein ähnliches Bild zeigt sich, wenn die Entwicklung der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter betrachtet wird. Auch wenn unter den hier verwendeten Bedingungen ein Rückgang zu erwarten wäre, fällt er weitaus weniger dramatisch, als in den Vorgängerberechnungen angenommen, aus. Während in der 12. Vorausberechnung ermittelt wurde, dass im Jahr 2060 38,0 Mio. Personen im erwerbsfähigen Alter in Deutschland leben, liegt der Wert in der 15. Vorausberechnung bei 45,5 Mio.«

Dazu finden Sie diese ergänzende Abbildung, in der die erheblichen Unterschiede illustriert werden:

Wie kann es nun zu den erheblichen Unterschieden zwischen den einzelnen Bevölkerungsvorausberechnungen kommen?

Sie ahnen richtig, es muss an den besprochenen drei Einflussfaktoren auf die demografische Entwicklung liegen, die wir im ersten Schwerpunktteil der Veranstaltung besprochen haben:

»Die Vorausberechnungen basieren auf Annahmen zur Lebenserwartung, der Geburtenrate und dem durchschnittlichen Wanderungssaldo (Differenz aus Zuzügen und Fortzügen) pro Jahr. Insbesondere die Zuwanderung ist dabei eine volatile Variable, die im Verlauf der einzelnen Vorausberechnungen gestiegen ist. In der moderaten Variante wurden im Jahr 2009 noch mit einem durchschnittlichen Wanderungssaldo von 200.000 Personen gerechnet. In der aktuellen Vorausberechnung wird für die gleiche Variable hingegen ein jahresdurchschnittliches Migrationsplus von 290.000 Personen angenommen.«

Erinnern Sie sich? Während die Veränderungen bei der Entwicklung der Lebenserwartung und der Geburtenrate überschaubar sind, erweist sich der Wanderungssaldo als die Einflussgröße mit den größten Schwankungen, was dann jede Annahme des zukünftigen Wanderungsgeschehens äußerst unsicher ausfallen lassen muss. 

An anderer Stelle wird hinsichtlich der Entwicklungen, die zu diesen Unterschieden geführt haben, ein Hinweis auf die letzte „Volkszählung“, die keine echte war, gegeben:

»Die Grafik lässt erkennen, dass die Bevölkerungsentwicklung mit jeder Vorausberechnung anders ausfällt. In der Tendenz wird das Bild mit jeder Vorhersage weit weniger dramatisch. Das erscheint realistisch: Während im Rahmen der 12. Vorausberechnung aus dem Jahr 2009 noch vermutet wurde, dass die Gesamtbevölkerung in Deutschland im Jahr 2020 etwa 80,4 Mio. Personen umfassen würde, belegen die Daten mittlerweile, dass der tatsächliche Bevölkerungsstand im Jahr 2020 bei 83,2 Mio. Personen lag … Dieser Unterschied ist auch deswegen bemerkenswert, weil der Zensus 2011 gezeigt hat, das die bis dahin auf Basis der Volkszählung von 1987 fortgeschriebenen Bevölkerungszahlen überhöht waren. Bis zum Jahr 2011 wurden in der amtlichen Statistik mehr als 1,6 Mio. in Deutschland lebende Menschen zu viel ausgewiesen. Obwohl die Prognose von 2009 noch auf diesem überhöhten Ausgangswert beruhte, lag die Schätzung für das Jahr 2020 deutlich unterhalb der tatsächlichen Bevölkerungsgröße.
Im Unterschied zu den vorherigen Berechnungen kommt die 15. Bevölkerungsvorausberechnung … nun erstmals zu dem Ergebnis, dass die Zahl der Gesamtbevölkerung bis 2030 zunächst weiter steigt und erst ab dem Jahr 2030 zurückgeht. Die früheren Berechnungen sahen stets voraus, dass der Bevölkerungsstand in Deutschland bereits ab dem Jahr 2020 stetig sinkt.«

Wie lautet das Fazit in der Veröffentlichung?

»Der Vergleich der Bevölkerungsvorausberechnungen zeigt, mit welchen Unsicherheiten Prognosen behaftet sind, da nur „Wenn-Dann“ Aussagen getroffen werden können. Gleichzeitig tragen die Vorausberechnungen aber auch dazu bei, das Schreckgespenst Demografie zu entkräften. In der Folge der aktuellen Vorausberechnungen müssen in der Debatte um die demografisch bedingten Konsequenzen für die Sozialversicherungssysteme neue Akzente gesetzt werden. Das Argument, die Sozialversicherungssysteme seien aus demografischen Gründen nicht mehr tragbar, greift viel zu kurz und ist im Lichte aktueller Schätzungen auch nicht haltbar.
Gleichwohl lassen sich demografische Veränderungen nicht grundlegend verharmlosen. Aber die Antworten auf eine sich verändernde Bevölkerung können nur in einer vorausschauenden Sozialpolitik liegen, bei der demografische Verschiebungen klug analysiert und das Bündel von Bewältigungsstrategien und Maßnahmen auch voll ausgeschöpft wird. Anstelle von pauschalen Leistungskürzungen ist beispielsweise auch an den Einbezug der Beamten und der Selbständigen in die gesetzlichen Sozialversicherungssysteme oder steigende Beitragsbemessungsgrenzen zu denken.